Im Land der armen Hansen

Aus dem Buch „Im Land der armen Hansen“
Bergwinkel-Studien aus dem Jahre 1975 Seiten 139 ff.
Von Alfred Kühnert / Verlag H. Steinfeld Söhne

Brandensteiner und Hundsrücker

Fast jeder Landwirt lenkt des öfteren seine Schritte in den Keller, um einen erfrischenden Trunk aus seinem Weinfaß zu holen. Allerdings ist es keine Spätlese, kein Riesling oder Silvaner, ja, es ist überhaupt kein Saft der Trauben. In den 80- oder 100-Liter-Fässern ruht ein Getränk, das aus Renetten, Gravensteinern oder Goldparmänen, aus den Apfelsorten der heimischen Gärten und Feldern, gepreßt wurde. In der Herbstzeit werden alljährlich in vielen Dörfern die Keltern aufgestellt, um den Most zu gewinnen, den man später als Rauscher oder Apfelwein genießt.
Nur wenige wissen jedoch, daß im Mittelalter viele Hänge des Bergwinkels mit Weinreben bepflanzt waren. Die erste Kunde stammt von 1166 aus Altengronau. Neun Krüge Wein gehörten zu dem von Altengronau zu liefernden Klosterzehnten. 1319 wird vom Weinbau in Steinau (Hundsrück, Marborner Warte) und Salmünster berichtet und 1349 von einem Weingarten am Hanberg bei Ahlersbach, aber auch Elm (1354), Klostergut Hohenzell (1356), Sterbfritz (1382, Weingarten an der Musebach) und Steinau (1384, Bellinger Berg) werden erwähnt.

Selbst Ulrich von Hutten vergißt 1518 bei der Beschreibung des Lebens auf der heimatlichen Burg Steckelsberg Weinberge, Weingärten und Weinlese nicht: „Die Leute, die uns erhalten, sind äußerst dürftige Bauern, denen wir unsere Äcker, Weingärten, Wiesen und Wälder verpachten“ oder „In den Weinbergen ist Arbeit“ und „Es kommt die Weinlese“.brandenstein01-2-2
Die Bergwinkel-Chronik berichtet von gräflichen Beamten in Hanau, die sich 1539 an „Oberländer Wein“ labten. Sie haben „ihren trank gehatt aus mancherlei art: Brandensteiner, Hunsricker, Geilnhäuser etc. und trunken anders nit, dan ob es lauter bach gewest wer.“

Vor dem Dreißigjährigen Krieg wurden allein an Weinbergen des Klosters Schlüchtern „14 zu Kressenbach, 40 zu Elm, 7 zu Hutten und 42 zu Schlüchtern“ aufgezählt. 1595 werden in Steinau 190 Parzellen (manche 2-4 Morgen groß) genannt und als Weinbaugebiete Hundsrücker Berg, Südhang des Stummen Rains, Am Lerchenlauf, In der krummen Leiden, Hinter dem Bellinger Berg und am Jentenbusch (heute Entenbusch) angegeben. Die Hohenzeller ernteten nach einer Erhebung von 1549 am Hohenzeller Berg im Jahre etwa 7 Fuder (etwas über 6000 Liter) und die Kressenbacher 5 Fuder Wein.

Die Qualität des Oberländer Weines war nur minderwertig, was zwei Anekdoten beweisen. So soll ein Edelmann aus dem sonnigen Spanien während des Dreißigjährigen Krieges aus dem Kinzigtal nach Hause geschrieben haben, er befinde sich gegenwärtig in einer Gegend, wo der natürliche Essig wachse. Unter Soldaten ging das Wort um, daß zum Weintrinken im Oberland drei gehören; während einer trinke, müßten ihn zwei halten, damit er die Bauchschmerzen übersteh.
Die Gaumen der Einheimischen schienen nicht so verwöhnt zu sein; denn die Wirte hatten immer Oberländer Wein auf Lager, und der Schlüchterner Abt Lotichius beurteilte den Hundsrücker folgendermaßen: Anfangs „gehet er sanft ein, dann aber gewinnt er Kraft und feiert wunderbarliche Triumphe“.
Die gräfliche Herrschaft ließ sich durch das Ungelt, eine Verbrauchersteuer, die Erlaubnis zum Ausschank sogar bezahlen, wobei mit einem Kerbholz als Meßlatte die verkaufte Menge exakt bestimmt wurde. Ein herrschaftlicher Weinmeister oder Weinsetzer legte nach einer Prüfung die Preise fest. Nur bei Hochzeiten und Richtfesten waren in Steinau zwei Eimer steuerfrei.

Als sich nach dem Dreißigjährigen Krieg allmählich die Handelsbeziehungen besserten, mußte der Oberländer Wein den qualitativ hochwertigeren Frankenweinen weichen. Dafür nahm der Kartoffel- und Tabakanbau ständig zu. 1813 wurde in Salmünster nur noch wenig Wein angebaut, aber durch strenge Zollmaßnahmen stieg dort die Zahl der Anlagen 1824 wieder auf 23; jedoch 1835 gab es noch 8 Weinbauern mit einem Ertrag von etwa 4 Ohm (600 Liter). 1866 hörten auch die Steinauer mit dem mühevollen und wenig ertragreichen Weinbau ganz auf. Waren im Mittelalter schon im Rhein- und Maintal von 100 Weinlesen nur 38 gut und 11 Hauptjahre, so gab es in dem kälteren Kinzigtal durch Fröste, Nässe und Schädlinge noch mehr Ausfälle.

Von alters her galt der Wein als ein Getränk, das bei Festlichkeiten nicht fehlen durfte. Nicht nur den familiären, sondern auch den kirchlichen und staatspolitischen Feiern gab er die festliche Note. Bei allen besonderen Anlässen spielte er eine Rolle. So mußte auch in der Stadt ein neuer Bürger bei seiner Aufnahme eine Weinspende leisten. In wohlhabenden Häusern gehörte der Rebensaft zu den täglichen Mahlzeiten und wurde sogar in der Küche beim Kochen und Backen als Würze benutzt. Wirte, die Wein ausschenkten, zeigten dies meist durch einen ausgehängten Krug an.

Schon die Römer und Karolinger versuchten, an günstigen Südhängen auf Kalk- und Sandböden den Weinbau einzuführen. Die Kreuzfahrer brachten neue Rebsorten aus dem Orient mit. Sogar bis hin zur Weichsel entstanden in Deutschland Weingärten, die jedoch 1437 einem strengen Winter zum Opfer fielen. Natürlich wünschten auch die Herren des Bergwinkels, die Grafen von Hanau, die Muschelkalkhänge des Kinzigtales zum Anbau des edlen Trunkes zu nutzen und fragten nicht nach den Mühen, Sorgen und Anstrengungen, die der Anbau und die Pflege der Weinstöcke mit sich brachten.
Im Frühjahr begann das Graben des Bodens, der dadurch eine wärmere und wasserbindende Kraft erhielt. Abgeschwemmte Erde und Dünger mußten mühsam mit der Kötze auf dem Rücken an den Steilhängen hochgetragen werden. Während des Sommers verlangten die Reben einen ständigen Schnitt, und erst das Binden an die Haltepfähle sicherte gute Früchte. Insekten, Vögel und Pilze jedoch bildeten eine ständige Gefahr. Durch den Anbau verschiedener Sorten versuchte der Weinbauer, einem Totalausfall zu entgehen. Im Herbst, kurz vor der Lese, wachten die Flurschützen, um die Weinberge vor Diebstählen zu sichern. In dieser Jahreszeit war gerade im etwas rauheren Bergwinkel jeder Sonnentag wichtig. Die geschnittenen Trauben kamen in große Bütten, worin sie von den Winzern mit ihren Füßen, die in Holzschuhen steckten, zerquetscht wurden. Erst später kamen Traubenmühlen auf. In der Kelter fand anschließend die Trennung von Most und Trebern statt. Letztere übergoß man meist nochmals mit Wasser und preßte sie zum zweitenmal aus, wodurch der wäßrige Treberwein entstand. Oft maischte der Bauer die Treber auch zur Branntweinherstellung ein oder fütterte das Vieh damit.

Der Most mußte bei 5-15 Grad eine ruhige Gärung von 2 bis 3 Wochen durchlaufen. Doch schon in dieser Zeit probierte der Bauer manchmal den Brausewein oder Federweißen, um die Qualität festzustellen. Im Februar und März fand das Abziehen des fertigen Weines auf Lagerfässer statt.
Hierzu mußten die Büttner gute Vorarbeit leisten; denn brüchige Dauben riefen einen widrigen Faßgeschmack hervor. Ausgeschwefelte und dichte Fässer waren die Voraussetzung für einen guten Wein.

Ähnlich wie der Anbau und Tabak, Raps, Hanf und Flachs ist auch der Weinbau im Bergwinkel vor etwa 100 Jahren völlig eingestellt worden. Doch nicht nur Rebstöcke an geschützten Hauswänden erinnern an den Oberländer Wein, auch einige Flurnamen rufen ihn ins Gedächtnis zurück. Zwar sind heute die Berghänge steinig und kahl, mit Kalktrockenrasen bestanden und wild mit Buschwerk bewachsen, aber sie tragen noch stolz den alten Namen Weinberg (Steinau, Elm) oder Fronweinberg (am Brandenstein) und Lesesteinrücken, wie sie heute noch am Herolzer Giebel zwischen Kiefern, Ahornen und Erlen zu finden sind, verraten etwas von der mühsamen Arbeit der früheren Weinbauern.